Zu jeder seiner vielen erlernten Sprachen hat Ioannis Ikonomou eine Art familiäres Verhältnis aufgebaut. Wird er danach gefragt, welche dieser Sprachen ihm die Liebste sei, antwortet er: “Ich liebe alle Sprachen! Es ist in etwa so, wie wenn man einen Vater fragt, wer sein Lieblingssohn oder seine Lieblingstochter ist”[1], und das ist nunmal schier unmöglich. Erst recht, wenn man so wie Ioannis ganze 32 davon zur Auswahl hat. Nicht Kinder, sondern Sprachen…
Im Leben eines Sprachgenies
Ioannis ist polyglott. Der Begriff stammt aus dem altgriechischen und bedeutet übersetzt so viel wie “mehrsprachig” oder wortgetreuer: “viele Zungen”. Polyglotte Menschen beherrschen mehrere Sprachen und werden somit auch als vielsprachig, mehrsprachig oder multilingual bezeichnet.
Es gibt zwar keine offiziellen Grenzen oder Zahlen, die bestimmen, ab wann einer Person das Attribut “polyglott” verliehen wird, aber für gewöhnlich fallen darunter Menschen, die fünf oder mehr Sprachen sicher beherrschen. Nach dieser Definition ist Ioannis Ikonomous eher als “hyperpolyglott” einzustufen. Zu den 32 lebendigen Sprachen, die Ioannis in Wort und Schrift beherrscht, kommen noch einige ausgestorbene Sprachen wie Latein, Gotisch oder Altiranisch hinzu, welche nicht mehr aktiv gesprochen werden.[2]
Die Begeisterung für vielfältige Sprachen entwickelte sich bei Ioannis schon in jungen Jahren. Damals, am Strand in seiner Heimat Kreta, hörte er die Touristen in allen möglichen Sprachen reden und war von den fremdartigen Lauten fasziniert. Er wollte sie verstehen, wollte wissen, worüber sich die Urlauber unterhielten, wollte mitreden können. Mit etwa fünf Jahren brachte er sich selbst Englisch bei und nach der Einschulung kamen Altgriechisch, Latein und Deutsch hinzu. Wenige Jahre später folgten Italienisch, Türkisch, Russisch und – zum Zeitvertreib – Suaheli.
Mit 20 Jahren waren Ioannis bereits 15 Sprachen in Wort und Schrift geläufig. Im Studium fügte er unter anderem Persisch, Hebräisch und Sanskrit zu seinem Sprachschatz hinzu und stockte nach seinem Arbeitsantritt als Übersetzer in der europäischen Kommission in Brüssel um weitere 12 Sprachen auf. In seinem Job übersetzt er täglich wichtige Dokumente und Gesetzestexte in mannigfaltige Amtssprachen. Das mag für so Manche wie der langweiligste Job der Welt klingen, doch aus Ioannis spricht der pure Stolz, wenn er davon berichtet, welchen Wert seine Arbeit für die internationale Völkerverständigung hat.
Sprachlerntipps von Ioannis Ikonomous
In seinem väterlich-anrührenden Zitat zu Beginn steckt sowohl die ureigene Sprachphilosophie des Polyglotten als auch der wertvollste Ratschlag für alle, die neue Sprachen lernen möchten: Lerne mit Leidenschaft und Begeisterung!
Das Wichtigste beim Lernen neuer Sprachen ist für Ioannis Ikonomous, sich mit der Zielsprache zu identifizieren und sich mit all ihren Hintergründen, Eigenheiten und Besonderheiten zu befassen. Man solle die Sprache lieben lernen, eine Leidenschaft für sie entwickeln. Dafür müsse man bereit sein, vollständig in die neue Sprache “einzutauchen” und sich ihr “hinzugeben”. Man dürfe seine kindliche Neugier nicht verlieren und solle stattdessen mit offenen Augen und Ohren durch die Welt gehen. Ioannis betont, wie hilfreich es für das Sprachenlernen ist, das jeweilige Land zu besuchen, die mit der Sprache verbundenen Kulturen kennenzulernen und sich von den neuen Eindrücken begeistern zu lassen.
Doch bloß mit Leidenschaft, Luft und Liebe lernt man keine Sprachen. Man muss sie anwenden. Am Besten so oft es geht, in unterschiedlichen Situationen, mit Menschen verschiedener Muttersprachen und in vielfältigen Medienangeboten. Das regelmäßige Üben bleibt auch für ein vermeintliches Sprachgenie wie Ioannis Ikonomous nicht aus. Litauisch und Armenisch habe er beispielsweise wieder vergessen, weil er sie nicht oft genug gesprochen hat.
Im Gegensatz zum theoretischen Pauken versteht Ioannis das Üben als aktiven und abwechslungsreichen Prozess. Er liest beispielsweise Bücher in verschiedenen Sprachen, schaut internationale Filme, Serien und Nachrichten in Originalsprache und unterhält sich täglich in Online-Chats mit Freunden aus aller Welt in ihrer jeweiligen Muttersprache. Die multilinguale Kommunikation wirkt sich auch auf sein Unterbewusstsein aus: Er sagt, er träume nachts in allen möglichen Sprachen.
Sein größter Ratschlag für alle, die neue Sprachen lernen möchten, lautet daher: Baue die Sprache in deinen Alltag ein! Integriere kleine Sprachhäppchen in deinen Tagesablauf, indem du zum Beispiel deinen morgendlichen Nachrichtensender in deiner Zielsprache anhörst, in der Bahn auf dem Weg zur Arbeit zu Musik in der neuen Sprache lauschst oder abends beim Kochen mit einem anderssprachigen Rezept in die jeweilige landestypische Kulinarik eintauchst.
Besonders hilfreich ist es, kontinuierlichen Kontakt zu Personen anderer Muttersprachen zu pflegen. Wenn du nicht die Chance hast, in das Zielland zu reisen, bieten sich Sprach-Tandems an, welche nahezu in jeder Stadt über Sprachlern-Websites und Online-Plattformen angeboten werden.[3] Hier hast du die Chance, deine Fremdsprachenkenntnisse durch Gespräche und Unternehmungen mit muttersprachlichen Partnern oder Partnerinnen je nach Bedarf aufzufrischen oder zu vertiefen, während dein Gegenüber umgekehrt von deinen muttersprachlichen Kenntnissen profitieren kann.
15 Minuten täglich für den Lernerfolg
Konkreter wird Ioannis Ikonomous im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung.[4] Für alle Sprachbegeisterten empfiehlt er eine Art Drei-Stufen-Plan zum Sprachenlernen. Täglich solle man hierfür etwa 15 Minuten investieren. Das klingt machbar, oder?
1. Eine solide Basis schaffen
Zunächst müssen die Grundlagen der jeweiligen Zielsprache erarbeitet werden. Verwendet die neue Sprache ein unbekanntes Alphabet (z.B. Griechisch, Arabisch, Russisch, Japanisch…), steht das Einpauken der neuartigen Buchstaben und Laute an erster Stelle.
Darauf folgt ein erstes Kennenlernen des Vokabulars, denn der Wortschatz bildet die Basis einer jeden Sprache. Statt lange Vokabellisten abzuarbeiten, empfiehlt es sich bereits hier, den eigenen Lernprozess mit digitalen Medien zu unterstützen.
Um zu wissen, wie aus den gelernten Vokabeln nun ein korrekter Satz gebildet wird, muss im gleichen Schritt auch die Grammatik der Zielsprache trainiert werden. Neben zahlreichen Lehrbüchern für den autodidaktischen Spracherwerb (viele Polyglotte vertrauen dabei auf die Buchreihe von “ASSiMiL”) stehen den Lernenden hier zum Beispiel Video-Tutorials zur Verfügung, mithilfe derer man spezifische Regeln der Grammatik (Satzbau, Konjugation, Unregelmäßigkeiten) erlernen und vertiefen kann.
2. Ins kalte Wasser springen
Die Zielsprache wird nun Stück für Stück in den Alltag integriert. Man beginnt beispielsweise damit, Nachrichtensendungen und Zeitungsartikel in der noch unbekannten Sprache zu lesen – auch, wenn man zunächst kaum ein Wort versteht.
“Aber nicht aufgeben”, appelliert Ioannis. “Lese und höre zu. Unterhalte dich über Skype. Setze dich mit der Sprache auseinander. Man braucht Selbstdisziplin und Durchhaltewillen, wenn man keinen Privatlehrer hat.”[4] Ein motivierender Anfang könnte auch sein, sich der landestypischen Musik zu widmen, um einen spielerischen, melodischen Zugang zum unbekannten Sprachfeld zu entwickeln.
3. Wissen aktiv und mit allen Sinnen vertiefen
An einem gewissen Punkt, so Ioannis, ist es an der Zeit, auch die Grammatik hinter sich zu lassen, um noch weiter über den Tellerrand schauen zu können und sich auch der landesspezifischen Kultur widmen zu können. In dieser Phase solle man, falls möglich, unbedingt in das jeweilige Land reisen, sich mit Locals anfreunden und diese Kontakte pflegen. Das große Ziel innerhalb des letzten Schrittes sollte für die Sprechenden das flüssige Beherrschen der Sprache sein. Das tiefere Eintauchen in landes- und sprachspezifische Eigenheiten und das zunehmende aktive Sprechen sorgt für ein tieferes Verständnis und kann das implizite Sprachwissen, also den intuitiven Umgang mit Sprache, fördern.
Wer spricht die meisten Sprachen?
Wie viele Polyglotte die Welt aktuell beherbergt, lässt sich nicht genau eingrenzen. Es gibt allerdings Schätzungen, dass über die Hälfte der Weltbevölkerung mindestens zweisprachig aufwächst oder lebt. Einige bekannte Hyperpolyglotte überschritten zu Lebzeiten sogar den Sprachschatz von Ioannis Ikonomous.
So behauptete der Ökonom und Schriftsteller John Bowring (1772-1872) beispielsweise, über 100 Sprachen in Wort und Schrift zu beherrschen. Diese Behauptung ist allerdings nicht bewiesen und laut kritischen Linguisten wohl eher einem Anflug von Hochmut zuzuschreiben. Kardinal Giuseppe Mezzofanti (1774-1849) soll mit insgesamt 72 Sprachen vertraut gewesen sein, wobei er nur etwa 30 davon fließend und sicher beherrschte. Und dann wäre da noch Emil Krebs (1867-1930). Das polnische Sprachgenie arbeitete als Dolmetscher im Auswärtigen Amt Berlin und soll ganze 68 Sprachen gesprochen haben. Sein Gehirn wird bis heute zu Forschungszwecken im Institut für Hirnforschung der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf aufbewahrt. Nach neueren Untersuchungen führen Forschende seine außergewöhnliche Sprachbegabung auf die starke Ausprägung des sogenannten “Broca-Areals” zurück, welches im Gehirn vor allem für die Lautbildung, Sprechmotorik und das Bilden abstrakter Wörter zuständig ist.[5]
Wertvolle Tipps von anderen Mehrsprachigen
Doch auch ohne besonders ausgeprägtes Broca-Areal ist es durchaus möglich, sich in der Welt der Mehrsprachigen einzugliedern. Im talkREAL-Blog werden einzelne (lebende) Polyglotte portraitiert und geben praktische Tipps, wie man sich eine Sprache am besten aneignen kann. Aus den gesammelten Erfahrungen der Sprachkoryphäen lassen sich folgende Ratschläge bündeln:
- Suche dir gute Gründe für das Erlernen einer neuen Sprache. Lernst du sie “einfach so aus Spaß”, läufst du durch mangelnde Zielsetzungen eventuell Gefahr, demotiviert zu werden und die nötige Disziplin nicht aufbringen zu können.
- Mache dich so früh wie möglich mit dem Klang der jeweiligen Sprache vertraut. Höre zu und verfolge Sprachmelodien so aufmerksam, als würdest du ein gutes Lied hören.
- Schaffe dir selbst Herausforderungen. Suche aktiv den Kontakt zu Menschen anderer Muttersprachen – ob persönlich oder über Online-Chats, spielt keine Rolle.
- Lerne von den Besten. Zum Beispiel von Muttersprachlerinnen und Muttersprachlern in Tandem-Treffen oder von den Methoden anderer Vielsprachiger.
- Passe deine Lernzeiten an deinen Biorhythmus an. Lerne beispielsweise morgens aktiv durch Sprechen und Schreiben und abends eher passiv durch Hören und Lesen.
- Gehe offen mit Fehlern um. Sie sind eine grundlegende Voraussetzung für effektives Lernen und langfristigen Wissensaufbau.
- Plane ein kurzes, aber tägliches Lernpensum ein. Ob 10 Minuten oder gleich eine Stunde ist dabei zweitrangig. Wichtig ist die Regelmäßigkeit und die damit einhergehende Selbstverständlichkeit im Umgang mit der neuen Sprache.
- Probiere unterschiedliche Methoden aus. Unter Vielsprachigen scheinen besonders die Shadowing-Methode[6] und die Assimil-Methode[7] beliebt zu sein.
Je mehr, desto einfacher…
Nimmst du dir ein paar dieser Tipps und Tricks zu Herzen, wirst du ganz sicher schon bald sprachliche Erfolge verbuchen können. Viele Polyglotte berichten, dass das Erlernen einer Sprache umso leichter wird, je mehr Sprachen man bereits gelernt hat. Natürlich gilt dies umso mehr, je ähnlicher sich die Sprachen untereinander sind. Bist du also schon kompetent im Französischen und Spanischen unterwegs, fällt es dir sicher leichter, auch noch Italienisch zu lernen, da du viele Parallelen innerhalb mancher Wortstämme und Grammatikregeln entdecken wirst und so an Vertrautes anschließen kannst.
Doch die sicherste Strategie scheint nach wie vor zu sein, sich in die jeweilige Zielsprache zu verlieben. Diese neu gefundene Liebe hält deine Motivation aufrecht und führt dich womöglich zu unentdeckten Ecken ihrer Kultur und deines eigenen Könnens.
Bleibe neugierig!