Als Lehrkraft gehört es zu Ihrem Job, täglich unzählige Fragen von Lernenden zu beantworten. Das Antworten und Erläutern gehört sozusagen zu Ihren Kernkompetenzen. Genau diese wollen wir nutzen – nur stellen hier nicht die Schülerinnen und Schüler die Fragen, sondern Erwachsene.

Sie selbst wissen, wie wichtig der regelmäßige Austausch im Kollegium für Ihre persönliche Entwicklung ist. Mit der Serie “Nachgefragt!” möchte phase6 Lehramtsstudierenden, Personen im Referendariat und ausgebildeten Lehrkräften eine Plattform bieten, in der ein Austausch über essentielle Fragen zum Lehrberuf stattfinden kann. 

Wir fragen – Lehrkräfte antworten. Dieses Mal zur Frage:

„Wie gehen Sie mit verhaltensauffälligen Kindern um?“

 

Kim unterrichtet die Fächer Deutsch und Arbeitslehre an einer integrierten Gesamtschule in Hessen.

Wann ist ein Kind verhaltensauffällig? Wenn es den Unterricht boykottiert? Wenn es während der Unterrichtsstunde lustlos mit dem Kopf auf dem Tisch liegt? Wenn es ausfällig gegenüber der Lehrkraft und den Mitschülerinnen und -schülern wird? Wenn es über eine schlechte Zensur lacht oder wenn es deprimiert wirkt? Es gibt so viele „Auffälligkeiten“, dass man als Lehrkraft genau beobachten und gegebenenfalls Hilfe von außen dazuholen muss.

Schüler N., 9. Klasse einer IGS (integrierte Gesamtschule), kommt nach der großen Pause in den Unterricht, zieht die Kapuze seines Hoodies über seinen Kopf und legt sich, scheinbar provokativ, zum Schlafen auf seinen Tisch. Auf meine Ansprache reagiert er nicht, also gehe ich zu ihm hin und spreche ihn direkt an. Er reagiert, murmelt etwas vor sich hin. „Schau mich bitte an!“, sage ich zu ihm. Er hebt den Kopf und ich erkenne seine geweiteten Pupillen.

„Jetzt bloß nicht vor der Klasse Aufsehen erregen“, denke ich und beschließe, draußen vor der Tür den Schulsozialarbeiter per Handy über meinen Verdacht zu informieren. Dieser holt N. kurze Zeit später unter einem Vorwand aus der Klasse und bittet ihn zur Urinprobe, die Schüler N. auch abgibt. Mittels eines Schnelltests wird ihm der Konsum von Marihuana nachgewiesen. Da mit N. nichts mehr anzufangen ist, schicken wir ihn für den Rest des Tages nach Hause. Es folgen etliche Gespräche mit den Eltern und mit N., um herauszufinden, warum er vor oder während des Unterrichts die Notwendigkeit sieht, zu konsumieren, wie lange er das schon macht und wie seine Zukunft aussehen soll. N. hat das Glück, Eltern zu haben, die sich kümmern und bekommt seine Probleme sicher schnell wieder in den Griff.

Schüler F., ebenfalls 9. Klasse an einer IGS, war lange Zeit negativ auffällig, hatte sich aber im 8. Schuljahr super im Griff und brachte endlich gute Leistungen. Mit Beginn der 9. Klasse ist er plötzlich wie „ausgetauscht“, hat keine Materialien dabei, verweigert die Mitarbeit, kommt zu spät aus den Pausen zurück und fehlt immer öfter im Unterricht. Nach mehrmaligem Nachfragen meinerseits, was denn mit ihm los sei, erzählt er mir endlich in einer ruhigen Minute, dass seine Eltern sich getrennt haben. Diese Tatsache hat F. völlig aus der Bahn geworfen. Ich informiere die Eltern, schalte den Schulsozialarbeiter ein, der F. und dessen Eltern aus den vergangenen Jahren gut kennt. Es folgen auch hier Elterngespräche, die aber nicht den gewünschten Erfolg bringen. Also bleibt mir als letzter Strohhalm nur noch der Kontakt zur Schulpsychologin. F. bekommt die Möglichkeit, ein Langzeitpraktikum zu absolvieren und nur wenige Stunden beschult zu werden, lehnt dies aber ab. Er verlässt die Schule nach der 9. Klasse ohne Abschluss.

Schüler L., ebenfalls 9. Klasse an einer IGS (allerdings im 11. Schulbesuchsjahr), ist lernschwach, erscheint aber immer zum Unterricht. Er absolviert seine Berufspraktika in einem KFZ-Betrieb und arbeitet dort auf mein Anraten auch mal freiwillig in den Ferien. Er überzeugt im Betrieb und bekommt (trotz eines schlechten Zeugnisses) einen Ausbildungsvertrag. Von da an fühlt er sich auf der sicheren Seite und macht in der Schule gar nicht mehr mit, fehlt häufiger und seine Leistungen gehen gegen Null. Mit viel Geduld rede ich immer wieder mit ihm, erkläre ihm, dass er seinen Hauptschulabschluss schaffen muss, damit der Ausbildungsvertrag auch tatsächlich Bestand hat. Ohne Erfolg: L. macht nichts mehr. Ich beschließe, eine konfrontative Methode der Pädagogik anzuwenden, weil ich das Gefühl habe, L. nur so noch retten zu können und ich hoffe, dass ich ihn damit treffe. Als L. wieder einmal gelangweilt und „super cool“ im Unterricht abhängt, reiche ich ihm ein mit Wasser gefülltes Glas mit den Worten: „Hier ist deine Zukunft, schütte sie weg!“  – Er hat das Wasser nicht weggeschüttet, er hat sofort verstanden, was gerade passiert und tatsächlich ab diesem Tag gearbeitet, den Hauptschulabschluss erlangt und beginnt nun seine Ausbildung.

Die Konfrontationstechniken sind sicher nicht bei allen schwierigen Schülerinnen und Schülern hilfreich, man muss ein Kind gut kennen, um einzuschätzen, wie es darauf reagiert!

Fazit: Der Umgang mit verhaltensauffälligen Schülerinnen und Schülern erfordert viel Fingerspitzengefühl, Empathie und gegebenenfalls die Mithilfe der Eltern, Sozialarbeitende, Jugendämter und anderer Einrichtungen. Als Lehrkraft sollte ich alle Chancen nutzen, die sich bieten, einem Kind zu einer positiven Zukunft zu verhelfen.

Franziska unterrichtet seit August 2019 an einem Berliner Gymnasium Englisch und Deutsch.

Wer kennt es nicht – auffälliges Verhalten von Schülerinnen und Schülern: Während einige den Unterricht beispielsweise durch Kommentare und Fragen stören, lenken andere zusätzlich ihre Mitlernenden zum Beispiel durch private Gespräche ab. Der eine oder die andere wünscht sich an dieser Stelle vermutlich ein Patentrezept – da jedoch alle Heranwachsenden einzigartig sind, gilt es meiner Meinung nach, zunächst herauszufinden, weshalb die Schülerin bzw. der Schüler solch ein Verhalten zeigt, um im Anschluss daran geeignete Maßnahmen ergreifen zu können.

In diesem Sinne möchte ich von zwei Situationen berichten, in denen sich das Ergründen der Anlässe für die Verhaltensauffälligkeit als besonders lohnend herausstellte. Erstere Situation spielte sich im Rahmen eines Computerkurses für die Jahrgangsstufe zwei ab: Ein Junge redete und sang ununterbrochen, wodurch er nicht nur selbst nicht bei der Sache war war, sondern zudem auch den Rest der Klasse ablenkte. Nach mehreren Gesprächen im Anschluss an den Unterricht fand ich heraus, dass der Schüler sich stark für (Rap-)Musik interessierte und dies seinen Mitlernenden so gern mitteilen wollte, dass er kaum still sitzen bzw. still sein konnte. Wir einigten uns darauf, dass er am Ende der Computerstunde fünf Minuten Zeit bekäme etwas vorzutragen, wenn er in der Stunde gewissenhaft mitarbeite – dies funktionierte wunderbar.

In der zweiten Situation, die sich im Deutschunterricht an einer deutschen Auslandsschule in Portugal abspielte, störte ein Mädchen der 8. Klasse stets den Unterrichtsfluss durch laute Kommentare und Untätigkeit – wie sich herausstellte aus Langeweile und Unterforderung, da sie die einzige deutsche Muttersprachlerin war. Nachdem ihr der Status als Lehrassistenz eingeräumt wurde und sie oftmals als offizielle Ansprechpartnerin für die Mitlernenden fungierte, reduzierten sich die Kommentare enorm und sie arbeitete wesentlich konzentrierter im Unterricht mit.

Das Fazit bleibt: Interesse an den Schülerinnen und Schülern und ein individuelles Aushandeln von Handlungsspielräumen lohnen sich.

Lydia unterrichtet Englisch und Französisch an einer Berliner Grundschule.

Verhaltensauffällige Kinder brauchen ganz individuelle Aufmerksamkeit. Dabei gibt es meiner Meinung nach kein Geheimrezept, denn jedes Kind reagiert unterschiedlich und hat seine eigenen Bedürfnisse. Wichtig ist, eine persönliche Beziehung zu diesem Kind aufzubauen, sodass es merkt, es wird wahrgenommen und die Lehrkraft möchte ihm helfen. Sobald diese individuelle Beziehung aufgebaut ist, sucht man nach dem eigentlichen „Problem“, falls es dieses überhaupt gibt. Kommunikation auf mehreren Ebenen (Eltern, Lehrkräfte, Schulleitung, Sozialarbeitende und natürlich das Kind selbst) ist dabei sehr wichtig.

Eine zentrale Rolle spielt auch die Klassenleitung, denn sie kennt die Kinder und die familiären Umstände meist am besten. Bei sehr schwierigen Kindern kann man probieren, eine Art „Verhaltens-Vertrag“ mit dem Kind auszuhandeln, natürlich immer in engster Zusammenarbeit und Absprache mit weiteren Personen. Es sollten zunächst nur kleine Ziele anvisiert werden, welche in kurzer Zeit erreicht werden können, um schnelle Erfolgserlebnisse zu erzielen. Beispielsweise kleine Schritte wie: „Ich melde mich für eine Woche immer, bevor ich etwas sage“ (für Kinder, die ständig reinrufen).

Wichtig ist außerdem, dass der Unterricht zwar abwechslungsreich ist, aber dennoch Regeln und Rituale vorhanden sind. Ferner hilft den Kindern eine klare Transparenz (z. B. am Anfang den Stundenablauf besprechen), sich auf den Unterricht einzustellen und die jeweiligen Phasen besser nachzuvollziehen. Und ein schneller Wechsel der Phasen kann die Konzentration von Kindern mit Aufmerksamkeitsschwierigkeiten fördern.

Ich probiere verhaltensauffällige Kinder stärker mit in die Unterrichtsabläufe einzubeziehen, indem ich ihnen aktive Aufgaben gebe, wie z. B. Arbeitsblätter verteilen oder etwas an der Tafel anschreiben. Bewegung bringt den Kreislauf in Schwung und unterstützt somit die Konzentrationsfähigkeit.

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Und was ist mit Ihnen?

Wie würden Sie die oben stehenden Fragen für sich beantworten? Die Antworten der Autorinnen und Autoren spiegeln ihre jeweiligen Erfahrungen und Standpunkte wider. Vielleicht haben Sie eine ganz andere Perspektive auf die Dinge oder gar gegenteilige Erfahrungen gemacht. Falls Sie weitere Anmerkungen, konstruktives Feedback oder Fragen zum Beitrag haben, schreiben Sie uns gerne über das Kontaktformular ganz unten auf der Seite.

Lesen Sie auch die Antworten zu anderen Fragen der Serie:

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Kim

Kim arbeitet seit fast 20 Jahren als Lehrerin an einer integrierten Gesamtschule in Hessen. Sie startete erst mit 37 Jahren ins Referendariat, unterrichtet seitdem Deutsch und Arbeitslehre in der 7. bis 10. Jahrgangsstufe und übernimmt die Klassenleitung. Die Arbeit mit Intensivklassen macht ihr seit ein paar Jahren besonders viel Spaß, denn die Lernerfolge werden mit den geflüchteten Kindern und Jugendlichen schnell deutlich. Da Kim selbst drei Kinder hat, weiß sie gut, wie diese im pubertären Alter ticken. Neben gutem Unterricht sind ihr intensive Elternarbeit sowie eine fundierte Vorbereitung ihrer Schülerinnen und Schüler auf das Leben besonders wichtig. Kims Steckenpferd ist die Nutzung außerschulischer Lernorte und die regelmäßige Teilnahme an Schulwettbewerben – So konnten schon viele Jugendliteraturpreise und Fotowettbewerbe gewonnen werden.

Franziska

Nach dem Master of Education an der Humboldt-Universität zu Berlin startete Franziska im Schuljahr 2019 in den Vorbereitungsdienst an einem Berliner Gymnasium. Die Liebe zu ihren Fächern Deutsch und Englisch verstärkte sich insbesondere durch diverse Auslandsaufenthalte (Erasmus in England, Schulpraktika an der Deutschen Schule in Rio de Janeiro und der Deutschen Schule in Porto) und Praktika im Goethe-Institut und einer privaten Sprachschule. Dank dieser verschiedenartigen Kulturkreise und Schul- und Unterrichtsformen sowie ihres studentischen Nebenjobs bei “Studenten machen Schule” und “Schule Plus” konnte Franziska bereits viele Unterrichtserfahrungen sammeln. All diese Erfahrungen steigern ihre Vorfreude auf das Referendariat und den Lehrberuf.

Lydia

Lydia hat die Fächer Englisch und Französisch in Potsdam auf Lehramt (Grundschule und Sekundarstufe I) studiert und zwei Semester in Frankreich im Rahmen des Erasmusprogramms verbracht. Neben dem Studium absolvierte sie viele Praktika und Nebenjobs im schulischen und außerschulischen Bereich. Durch das Leiten von Lern- und Sprachförderungen an Berliner Grundschulen, durch Methodenworkshops und den Einsatz als Sprachlernassistenz in einer Willkommensklasse sowie im Praxissemester an der Deutschen Schule in Genf konnte sie erste Praxiserfahrungen sammeln. Das Referendariat, welches Lydia an einer ISS mit gymnasialer Oberstufe absolvierte, prägte sie sehr. Die Höhen und Tiefen im Vorbereitungsdienst stärkten die junge Lehrerin in ihrer Lehrpersönlichkeit und sorgen nun für Vorfreude auf den Schulalltag als ausgebildete Lehrkraft in Berlin seit dem Schuljahr 2019.

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