Ein erfolgreich verlaufender Schriftspracherwerb ist für Kinder nicht nur im Deutschunterricht relevant, sondern betrifft ausnahmslos alle Fächer. Auch in Fächern wie Musik, Biologie, Chemie oder Mathematik müssen Texte und Aufgaben gelesen und verstanden werden, um gute Noten zu schreiben und aktiv am Unterricht teilnehmen zu können. Darüber hinaus ist Sprache und die Fähigkeit zum Umgang damit im Alltag allgegenwärtig. Auch für das spätere Erlernen von Fremdsprachen sind ausreichende Fähig- und Fertigkeiten rund um Sprache und Schrift essentiell. Folglich wird der Wunsch nach einer frühen Sprachförderung laut, da die individuelle Sprachkompetenz eines Kindes maßgeblich seine Zukunftschancen beeinflusst.

Doch wer oder was entscheidet darüber, wie die Entwicklung der sprachlichen Kompetenzen eines Kindes verläuft? Den größten Einfluss auf die Sprachentwicklung haben die engsten Bezugspersonen eines Kindes – also in den meisten Fällen die Eltern. Als erste Sprachvermittelnde kommt den Eltern eine bedeutende Rolle zu. Diese herausragende Bedeutung der Familie und Hauptbezugspersonen eines Kindes für den individuellen Schriftspracherwerb bildet den direkten Anknüpfungspunkt für familiäre Bildungsarbeit und sogenannte Family-Literacy-Programme weltweit.

Sprachförderung: Was ist Family Literacy?

Der Ausdruck “Family Literacy” setzt sich aus zwei Worten zusammen, welche jeweils sehr vielseitige Interpretationsmöglichkeiten eröffnen:

  • Familie mit Großeltern beim LesenFamily” schließt hier nicht nur die Eltern, sondern alle wichtigen Bezugspersonen im Leben eines Kindes mit ein. Dazu gehören auch Großeltern, Tanten und Onkel, betreuende Pädagogen oder große Geschwister, welche für die Kinder einen wichtigen und stetigen Stellenwert besitzen und somit Einfluss auf das tägliche Leben und den Schriftspracherwerb sowie die Lesesozialisation des Heranwachsenden haben.
  • Literacy” kann ins Deutsche als „Lese- und Schreibkompetenz“ übersetzt werden, umfasst aber weit mehr. Zum Literacy-Begriff gehören unter anderem Text- und Sinnverständnis, Vertrautheit mit Büchern und Schriftsprache, Leseinteresse, sprachliche Abstraktionsfähigkeit, schriftliche Ausdrucksfähigkeit und Medienkompetenz. Literacy kann laut Ulich als Sammelbegriff für kindliche Erfahrungen rund um die Buch-, Erzähl- und Schriftkultur verstanden werden.[1]

Family Literacy kann also zusammenfassend als familienorientierte Bildungsarbeit zur Sprach- und Literalitätsförderung verstanden werden, bei welcher verschiedene Generationen miteinander tätig werden. Damit sind nicht ausschließlich Programme öffentlicher Institutionen und Stiftungen gemeint, sondern auch literale Tätigkeiten innerhalb der Familie.

Wie Eltern Sprachförderung im Sinne von Family Literacy im eigenen Zuhause sinnvoll umsetzen können, ist unter anderem Thema unseres Artikels zu Family Literacy für Eltern und Lehrkräfte im Magazinbereich für Lehrende.

Was können Family-Literacy-Programme?

Großvater liest Enkelin vorDer Ursprung der Family-Literacy-Konzepte findet sich in den siebziger Jahren. Als Pioniere auf diesem Gebiet gelten Bildungsforscher der USA, welche in ihren schulbegleitenden Projekten die Interaktion zwischen Eltern und Kindern in den Mittelpunkt rückten. Die generationsübergreifende Konzeptidee war hier unter dem Namen “PACE” (parent and child education) bekannt. Mitte der neunziger Jahre übernahm die “Basic Skills Agency” jenen Ansatz und startete vier Modellprojekte an Vorschulen, deren Evaluationsergebnisse durch die “National Foundation of Education Research” sehr positiv ausfielen und sowohl bei Kindern als auch bei den Eltern signifikante Verbesserungen der Lese- und Schreibkompetenz zeigten.[2]

Seitdem sprossen zahlreiche weitere Literacy-Programme aus dem ergiebigen Boden der Bildungslandschaft und trugen Früchte. In zahlreichen Ländern auf allen Kontinenten der Erde können Eltern mit ihren Kindern mittlerweile an verschiedenen Family-Literacy-Projekten teilnehmen. Alle Projekte verfolgen das Ziel, Eltern und Familienmitglieder dabei zu unterstützen, ihre Kinder angemessen bei der Entwicklung der Lesesozialisation zu begleiten. Die Wirksamkeit aller Projekte wird regelmäßig evaluiert, sodass sich die individuellen Konzepte stetig weiterentwickeln können. 

Wie sind die Programme aufgebaut?

Da die Vielzahl an Variationen von Family-Literacy-Programmen heutzutage dank ihrer belegten Effizienz schier unüberblickbar scheint, kommt es auch zu Unterschieden im Bezug auf Aufbau und Zielsetzungen der jeweiligen Programme. Die grobe Struktur allerdings ist bei allen die gleiche und eingeteilt in drei Säulen:

  • Elternzeit
  • Kinderzeit
  • Familienzeit (Eltern-Kind-Aktivitäten)

Die Elternzeit ist zur Verbesserung der Grundbildungskompetenzen der Eltern gedacht. Sie erhalten Informationen über den kindlichen Spracherwerbsprozess und Anregungen, wie Eltern ihr Kind dabei unterstützen können. Gezielte Sprachförderung für Eltern nicht deutscher Herkunftssprache ist in den meisten Literacy-Programmen nicht explizit enthalten. Eltern werden allerdings dazu angehalten, an separaten Sprachkursen teilzunehmen. In der Kinderzeit praktizieren Erzieherinnen und Erzieher gemeinsam mit den Kindern spielerische, literale Aktivitäten und sprachliche Lernspiele und in der anschließenden Familienzeit werden jene Aktivitäten gemeinsam durchgeführt.

Kurz vorgestellt: Family-Literacy-Programme in Deutschland

frühzeitige SprachförderungDas neunmonatige “Rucksack KiTa”-Projekt der kommunalen Integrationszentren Nordrhein-Westfalen nahm seinen Anfang 1998 und findet mittlerweile bundesweit statt. Das Programm richtet sich vor allem an Kitas und Familien mit Migrationshintergrund mit Kindern zwischen vier und sechs Jahren und hat die Sprachförderung innerhalb der Erwachsenenbildung und der kindlichen Entwicklung zum Ziel. Erziehende, multilinguale Elternteile und Projektträger arbeiten eng zusammen. Materialien und Arbeitsbögen für zu Hause werden gestellt.[3] Ein weiteres Projekt des Trägers in NRW nennt sich “Griffbereit” und wendet sich an Eltern mit Kleinkindern bis drei Jahren. Bundesweit gibt es mittlerweile mehr als 300 “Griffbereit”-Gruppen. Auch in weiteren Ländern im europäischen Raum hat sich das Projekt etabliert.[4]

Family-Literacy-Programme in der Bibliothek umsetzenDie IMPULS Deutschland Stiftung e.V. Bremen bietet mehrere Family-Literacy-Programme an und arbeitet bundesweit mit geschultem Fachpersonal von lizenzierten Trägern (AWO, DRK, Caritas uvm.) zusammen. Zum einen gibt es das einjährige Programm “HIPPY KIDS 3”, welches sich an Familien mit Kindern im Alter von drei Jahren richtet und abwechselnd zu Hause und in Gruppentreffen stattfindet. Hier wird gezielt auf Literacy-Praktiken eingegangen und ein Fokus auf die Vorlesesituation gelegt. Das “HIPPY”-Programm, das sich an Familien mit Kindern zwischen vier Jahren und dem ersten Schuljahr richtet, konzentriert sich nicht nur speziell auf Sprachförderung, sondern unterstützt Eltern bei der allgemeinen Vorbereitung ihrer Kinder auf die Schule. Für Kitas und Familienzentren und deren Familien gibt es das ein- bis dreijährige “FIDI”-Programm, welches auf die Stärkung der Beziehung zwischen Eltern und Kitas/Familienzentren und der Förderung der Erziehungskompetenzen als Beitrag zur Chancengleichheit zielt. Weiterhin bietet IMPULS ein spezielles zwölfwöchiges Angebot für Flüchtlingsfamilien in Übergangsunterkünften an, das für Kinder bis sechs Jahren geeignet ist. Materialien für zu Hause und Anleitungen für gemeinsame (literale) Eltern-Kind-Aktivitäten erhalten die Eltern ebenfalls in den Kursen.[5]

Sprachförderung mit Verwandten und BekanntenDie bundesweit zugänglichen und schon seit sechzehn Jahren laufenden “FuN”-Programme des praepaed e.V. (Verein für präventive Pädagogik) wirken als präventive Familienbildungsprogramme zur Förderung der Elternkompetenz in fünf verschiedenen Programmen. “FuN” steht für “Familie und Nachbarschaft” – und hat das Bestreben, jenen integrativen Ansatz praxisnah umzusetzen. Für Familien mit Kindern im Säuglings- bis ins Jugendalter bietet “FuN” unterschiedliche kurze Projekte für Eltern und andere Bezugspersonen der Kinder an, die alle ihren Kern eher in der Stärkung der sozialen Beziehungen finden, als in der sprachlichen Förderung.[6]

Kindergruppe beim Vorlesen“Lesestart – Drei Meilensteine für das Lesen” ist ein offenes Leseförderprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und auf bundesweiter Ebene tätig. “Lesestart” bietet kostenloses Einstiegsmaterial sowie Tipps und Informationen zum Vorlesen und Erzählen im Familienalltag an. Seit dem Schuljahr 2016/17 gibt es “Lesestart”-Materialien auch speziell für Grundschulen.[7]

Das Hamburger Format “Buchstart”, initiiert von der Behörde für Kultur, Sport und Medien, ähnelt dem Konzept von “Lesestart”, indem es seit 2007 kostenlose Bücher und Informationsmaterialien zum Vorlesen für Eltern bereitstellt. Ein Zweigprojekt von “Buchstart” nennt sich “Gedichte für Wichte”. Hier werden in gemeinsamen Eltern-Kind-Gruppen Bilderbücher vorgelesen, Geschichten erzählt oder Lieder, Reime und Sprachspiele in den Mittelpunkt gestellt.[8]

Vater liest seinen Kindern vor“FLY” heißt das Family-Literacy-Konzept des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulentwicklung Hamburg und des UNESCO-Instituts für Lebenslanges Lernen. Es versteht sich als integrativer Ansatz zur aktiven Elternarbeit im Rahmen der Sprachförderung. Zwischen 2004 und 2009 war “FLY” Teil des Modellprogramms von “FörMig”, das sich vorrangig an Familien mit Migrationshintergrund richtet. Seitdem wird das Programm stetig durch neue Schulen und konzeptuelle Ansätze erweitert. So sind zum Beispiel “additive Sprachförderungsgruppen” für Vorschulkinder mit besonderem Förderbedarf angedacht.[9]

Optimierungsbedarf und Kritik

Trotz der ausreichend evaluierten und bescheinigten pädagogischen Bedeutsamkeit sowie entwicklungsfördernden Effizienz von öffentlichen Family-Literacy-Programmen, lassen sich an manchen Stellen Ansätze für Optimierungsmöglichkeiten finden.

Eltern spielen mit TochterEine großflächige Evaluation der britischen Modellprojekte der Basic Skills Agency ergab beispielsweise, dass die zahlreichen isolierten Angebote für jeweils Eltern oder Kinder in ihrer Effektivität nicht ansatzweise an die der gemeinsamen Eltern-Kind-Kurse herankommen. Das erlernte Wissen in den separaten Eltern-Kind-Kursen wird oftmals zu Hause nicht angewendet und bleibt somit auf die Schonräume der Schule, Kita oder Volkshochschule begrenzt. Lediglich die in der Familienzeit erlernten Eltern-Kind-Aktivitäten fanden auch zu Hause großen Anklang und wurden aus eigener Motivation fortgeführt. Das lässt darauf schließen, dass eine zeitliche Umverteilung der drei Ebenen dafür sorgen könnte, dass das Erlernte auch im privaten Familienleben umgesetzt wird. So könnte man die separaten Kurse einkürzen, während den gemeinsamen Sitzungen mehr Zeit geschenkt wird.

Weiterhin wird von Schwierigkeiten im Bereich der Kontinuität berichtet. Eine effektive Sprachförderung benötigt ihre Zeit. Doch viele Eltern schrecken – verständlicherweise – vor einer verpflichtenden, längerfristigen Teilnahme zurück, da sie sich nicht für einen so langen Zeitraum festlegen möchten. Das erschwert die Gruppenbildung ungemein und hindert das Projekt am Vorankommen. Ein hieraus resultierender Optimierungsansatz ist es, eine Family-Literacy-Lernwerkstatt einzurichten, welche an vereinbarten Nachmittagen in der jeweiligen Einrichtung stattfindet. Der zeitliche Aufwand für alle Beteiligten ist somit nicht zu groß und konzeptuell flexibler gestaltet.

Family Literacy in der Großfamilie Weiterhin könnte der integrative Ansatz der Formate erweitert werden, sodass auch andere Bezugspersonen wie Großeltern, Geschwister oder Nachbarn mehr mit einbezogen werden. Dieser Ansatz ist zwar in der Theorie unmittelbarer Bestandteil aller Family-Literacy-Programme, beschränkt sich aber in der Praxis dennoch meist nur auf beide Elternteile des Kindes. Das vorgestellte “FuN”-Projekt der praepaed e.V. spricht explizit auch die Nachbarschaft eines Kindes bzw. einer Familie an. Der erweiterte Einbezug außerschulischer Lernorte würde ebenfalls den interaktiven Charakter der Projekte unterstützen und sich positiv auf die Teilnahmemotivation auswirken.

Weiterhin könnten die Angebote zur elterlichen Grundbildung erweitert und differenziert werden. Gerade für Eltern nicht deutscher Herkunftssprache würden sich separate, aber mit dem jeweiligen Programm verbundene Sprachkurse anbieten, um die elterliche Selbstsicherheit im Umgang mit anderen Eltern und pädagogischem Personal zu stärken. Meist wird innerhalb der Projekte lediglich auf Zusatzangebote oder Sprachkurse an Volkshochschulen verwiesen, weil innerhalb der Programme kein zeitlicher Rahmen dafür vorgesehen ist. Würden projektinterne Einheiten zur Sprachförderung mehr Raum im “Pflichtfeld” für Eltern finden, könnte sich das positiv auf die Motivation der Erwachsenen auswirken, an weiteren, externen Sprachkursen teilzunehmen.

Was Eltern beachten sollten

Eltern albern mit ihren Kindern herumDeutsche Family-Literacy-Programme werden von verschiedenen Vereinen und Stiftungen durchgeführt und gehen größtenteils nach dem oben beschriebenen Drei-Säulen-Prinzip des Aufbaus vor. Obgleich alle Programme gründlich evaluiert wurden und ihnen Effektivität bestätigt wurde, ist es ratsam, sich als interessiertes Elternteil die einzelnen Programme genau in ihren Bedingungen, Zielen, Inhalten und Kosten anschauen. Diese unterscheiden sich teilweise sehr stark voneinander.

Grundsätzlich sollten Eltern, die sich für die Teilnahme an einem der Programme entscheiden, kritisch abwägen, ob sie und ihre Kinder die Bedingungen der jeweiligen Organisationen und Konzepte auch tatsächlich erfüllen können. Denn nur wenn eine gemeinsame und kontinuierliche Teilnahme realistisch in den Alltag integrierbar ist, können die Programme ihren positiven Einfluss entfalten.

Quellen:

[1] Ulich, Michaela: Literacy – sprachliche Bildung im Elementarbereich. In: Kindergarten heute. Heft 3. Freiburg 2003, S. 6-18.

[2] Elfert, Maren und Rabkin, Gabriele: “Family Literacy” – ein Projekt zur Förderung von familienorientierter Schriftkultur. In: Sasse, Ada und Valtin, Renate (Hrsg.): Schriftspracherwerb und soziale Ungleichheit. Zwischen kompensatorischer Erziehung und Family Literacy. Berlin 2006, S. 212-217.

[3] Informationen zur “Rucksack KiTa”

[4] Informationen zu “Griffbereit” 

[5] Informationen zu “IMPULS”

[6] Informationen zu “FuN”

[7] Informationen zu “Lesestart”

[8] Informationen zu “Buchstart” 

[9] Informationen zu “FLY”

Autorin: Carla

Als Lehramtsanwärterin arbeite ich an einer Berliner Grundschule und verfasse seit 2018 regelmäßig Artikel für das Magazin für Lehrkräfte sowie das phase6 Magazin. Dort widme ich mich mit besonderer Vorliebe spannenden Themen der pädagogischen Psychologie in Theorie und Praxis. In meinen aktuellen Erfahrungsberichten zum Referendariat erzähle ich in von den Höhen und Tiefen des schulischen Alltags als angehende Lehrkraft und teile hilfreiche Ratschläge und Tipps von erfahrenen Fachkräften und Seminarleitenden.